Unser ist das Meer – Kapitel 16

Es war noch früher Morgen als Ingibjörg seine beiden neuen Schüler weckte. Heute würden sie ihre erste Probe bestehen müssen und da sie vor Sonnenuntergang wieder zu dem kleinen Hof zurückkehren wollten, war es ratsam früh aufzubrechen. Ragin trug einen Wasserschlauch und einen Beutel mit Proviant für den Weg, während Beorn Ingibjörgs Rucksack trug. Der Alte hatte ihnen nicht gesagt wo genau sie hingehen würden. Die letzten Wochen hatten sie am Berg verbracht und wenn der Alte sie nicht unterrichtet hatte, mussten sie Feldarbeit leisten. Doch langweilig wurde es nie. Hatten sie ihre Fähigkeiten früher immer unterdrückt, schienen sie hier zu wachsen und zu gedeihen. Ob es an dem Berg, an den Lehren des Alten oder an beidem lag war nicht klar, doch die beiden jungen Männer waren froh endlich einen Weg zu gehen auf dem sie ihre früher so gefürchteten Gaben nutzen konnten.

Sie folgten schmalen Pfaden, ausgetreten von Tieren, immer tiefer in den Wald hinein. Hier und da blieb Ingibjörg stehen um Kräuter zu sammeln oder in den Wald zu lauschen. Er sprach nicht und die jungen Männer trauten sich nicht etwas zu sagen. Wie die kommende Aufgabe aussehen würde blieb ihnen ein Rätsel, doch obwohl der alte Mann gebrechlich schien, gab er ihnen Sicherheit. Natürlich trugen sie Waffen bei sich. Ragin hatte eine Orknase am Gürtel und Beorn stützte sich beim Gehen auf seinen Speer. Gefahren durch Wölfe oder Schwarzpelze würden sie abwehren können und das wogegen Waffen nutzlos waren, würde der Alte vertreiben.

Ingibjörg summte leise ein Lied, die Augen halb geschlossen. Er kannte diesen Weg wie die Linien auf seiner Hand und war ihn häufiger gegangen, als er zählen konnte, jedoch immer allein. Heb‘ die Füße, Junge, dachte er kichernd und Beorn stolperte zwei Sekunden später über eine Wurzel. Nicht nur die Runjas liebten ihre Streiche.

Ingibjörgs Summen verstummte, als der Pfad begann schmaler zu werden. Es war leicht zu erkennen, dass sich nicht viele Tiere hierher wagten und der Wald wurde bald lichter und der Boden felsiger. Ebenso wurde der Weg steiler und bald standen allen dreien kleine Schweißperlen auf der Stirn. „Nicht mehr weit“, murmelte Ingibjörg mehr zu sich selbst als zu seinen Lehrlingen und griff seinen Gehstock fester. Sie umrundeten einen großen Findling und blickten in den Rachen einer tiefen Höhle. Sie schien weit in den Berg zu führen und der Eingang war so hoch, dass Beorn sie mit geradem Rücken hätte betreten können. Neben dem Eingang lag der Kadaver eines Wildschweins und etwas das mal ein Wolf gewesen war. Beorn und Ragin fielen sofort die feinen Runen auf, die bis auf die Höhe von drei Schritt um den Eingang herum in den Stein geritzt waren. Einige neu andere fast verblasst.

Ingibjörg kniete sich vor die Überreste eines vor vielen Monden angezündeten Feuers und deutete Beorn ihm seinen Rucksack zu geben. Beorn tat wie ihm geheißen und beobachtete den Alten wie er ein Feuer entfachte und sofort etwas Rauchkraut in die Flammen warf. Noch während er Ingibjörgs Tun betrachtete fiel ihm Ragins besorgter Blick auf, der mit zusammengezogenen Brauen auf den Höhleneingang starrte. Beorn folgte seinem Blick und sein Herz sank. Wie ein schwarzes Maul klaffte die Höhle hinter ihnen und schien jedes bisschen Licht zu verschlucken. Trotz der Sonne, die hell über ihnen schien, war im Inneren der Höhle nichts zu erkennen. Im Gegenteil, schien die Dunkelheit eher aus ihr herauszukriechen. Instinktiv griffen beide an Metall und wandten sich dann wieder dem Alten zu, der sich zu ihnen umwandte und ihnen deutete sich zu setzen.

Sie saßen um das Feuer herum und starrten in die Flammen. Mal schien die Zeit zu rennen, mal schien sie zu kriechen, doch die jungen Männer wagten nicht zu fragen worauf sie warteten. Ihre Rücken begannen zu schmerzen und die Kälte des Bodens kroch in ihre Glieder. Gerade als sie dachten, sie würden es nicht mehr aushalten weiter dort zu sitzen, hörten sie es. Leise Stimmen, flüsternd, manche kichernd, die aus der Höhle drangen. Die Worte waren unverständlich, doch sie waren ganz klar da. „Runjas“, flüsterte Ingibjörg in strengem Ton zurück und die Stimmen verstummten fast augenblicklich.

Sie saßen weiter dort, diesmal geduldiger. Die Sonne stand schon wesentlich tiefer, doch das worauf Ingibjörg zu warten schien, ließ sich Zeit.

„Du bist hier“, flüsterte Ingibjörg und riss damit seine Lehrlinge aus ihrer Trance. Er begann mit einem Stock Runen in den Boden zu zeichnen und sie hörten, dass sich hinter ihnen etwas regte. Etwas großes schien sich mit schnellen Schritten zu nähern, doch egal wie angestrengt die jungen Männer auch in die Dunkelheit starrten, sie konnten nicht ausmachen was dort auf sie zu kam. Ein kehliges Knurren erklang, das von den Wänden der Höhle widerhallte und sie erkannten, dass es schon näher war, als gedacht.

Ingibjörg zeichnete einen Wolf in den Sand umringt von Runen, von denen die jungen Männer nur einige kannten.

Das Wesen war jetzt ganz nah und sie konnten eine Bewegung in der Höhle erkennen. Beorn und Ragin spürten seinen heißen Atem in ihren Nacken, der nach Tod und Verwesung stank. Gleichzeitig lehnten sie sich nach vorn und begannen mit ihren Fingern ebenfalls Runen in den Sand zu zeichnen. Es geschah mehr instinktiv als wissentlich, doch das wütende Knurren verstummte. Mit einer schwungvollen Geste wischte Ingibjörg den im Sand gezeichneten Wolf fort und ein zornerfülltes Bellen erklang aus der Höhle. Beorn und Ragin sahen das Aufblitzen gelber Augen, die jedoch sofort wieder verschwanden. Der Bewohner der Höhle entfernte sich, doch sie konnten seinen abgrundtiefen Hass spüren.

Mit knackenden Knochen und steifen Gliedern erhoben sie sich. Wenn sie das Grassodenhaus vor Sonnenuntergang erreichen wollten, mussten sie aufbrechen.

Niemand sprach auf dem Weg zurück und die beiden jungen Männer versuchten zu lauschen, ob die Runjas ihnen etwas mitteilen wollten. Doch wie so oft waren ihre Botschaften wirr und nicht zu verstehen.

Im Grassodenhaus setzten sie sich wieder um das Feuer, doch hier war es warm und gemütlich. Sie streckten ihre Glieder auf gemütlichen Fellen aus und aßen Brot mit Schmalz, während Ingibjörg einen Apfel schnitt.

„Heute habt ihr Goifang getroffen“, begann er und reichte Ragin ein Stück Apfel. „Er lebt schon lange hier, durchstreifte die Wälder bis hinunter nach Waskir, doch jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir ihn vertreiben müssen. Dieser Ort ist für wichtigeres bestimmt und Goifang ist eine zu große Gefahr. Ich habe ihn gebannt, schon etliche Male, doch dieses Mal brauche ich eure Hilfe.“

Die jungen Männer nickten bestimmt, doch beide spüren Angst in sich. Goifang war ein mächtiger Geist, der schon lange seine Wurzeln tief in den Berg gegraben hatten. Tiefe Wurzeln, die schwer auszureißen waren, auch mit der Hilfe des Alten.

Kapitel 15 | Kapitel 17